Das Interesse an der Führung des Rathauses sowie dem Vortrag zu dessen Baugeschichte war erfreulich groß

 

Das Mühlheimer Rathaus ist 38 Jahre jünger als bisher angenommen. Die tragenden Balken wurden im Winter 1453/1454 eingeschlagen. Bisher war aufgrund der Jahreszahl an der Rathausglocke ein Bau im Jahre 1416 angenommen worden. Mit dieser Erkenntnis hat Bauhistoriker Burghard Lohrum bei seinem Vortrag im Vorderen Schloss überrascht. Zuvor hatten die Teilnehmer bei einer Baustellenführung die vielleicht letzte Gelegenheit für viele Jahrzehnte, einen Blick auf die derzeit noch freigelegte Bausubstanz des fast 600 Jahre alten Gebäudes zu werfen.

 

Im Zuge der Sanierung wird das Holzskelett mit einem rund 25 Zentimeter dickem Lehmputz versehen. Der Lehm soll Feuchtigkeit vom Holz ableiten, das Gebäude isolieren und auch die Heizschlangen für die Wandheizung aufnehmen. Allerdings rechnet Projektleiter Gottlieb Riedinger mit dem Einzug der Verwaltung erst für Ende 2026. Das Bürgerbüro soll laut Bürgermeister Jörg Kaltenbach dauerhaft als „Dependance“ in den derzeitigen Räumen im Nachbargebäude bleiben. Während die Außensanierung bereits abgeschlossen ist, verharrt das Gebäudeinnere bis zur Bewilligung der erhofften Zuschüsse seitens des Regierungspräsidiums Freiburg weiter im Zustand des Rückbaus.

 

Bei der Baustellenführung standen neben Riedinger und Kaltenbach auch Verbandsbaumeister Aldo Menean, Stadtarchivar Ludwig Henzler, Zimmerermeister und Restaurator Martin Wider und Bauhistoriker Burghard Lohrum für Auskünfte bereit. Aus Gründen der Sicherheit im Hinblick auf die teilgeöffneten Böden und Decken, konnten nicht mehr als 25 Interessierte an der Führung teilnehmen. „Die Statik des Rathauses war von Anfang an überdimensioniert, sonst hätte schon lange etwas passieren können“, erklärte Riedinger. Immer wieder hätten vergangene Generationen mit „kreativen Lösungen“ manchmal nur kurzfristig wirksame Schadensbehebung betrieben. Nun soll das Haus aber laut Kaltenbach grundlegend und nachhaltig „ertüchtigt“ werden mit dem übergeordneten Ziel das Rathaus für viele weitere Generationen zu erhalten.

 

Die Schräglage der freigelegten Querbalken an den Giebeln zeigt anschaulich: Das Rathaus ist in 600 Jahren 60 Zentimeter in Richtung des südöstlichen Pfeilers Richtung Hintere Gasse abgesackt. Bauhistoriker Lohrum erklärte: „Diese Seite des Gebäudes hatte ursprünglich nur einen Meter Abstand zum nächsten Haus. Wo es eng ist, ist es feucht, und die Baumaterialien verrotten über so lange Zeit hinweg.“ So sei das Gebäude hier jährlich um einen Millimeter abgesunken. Riedinger demonstrierte vor Ort Versuche, dem Problem, das auch auf Böden, Decken und Dämmversuche durchschlägt, durch „Flickschusterei“ im Laufe der Jahrhunderte entgegenzuwirken. „Aber man konnte das Gebäude halt nicht wieder anheben“.

 

Zudem leitet der hintere Rathausgiebel die Lasten nicht ideal ab: Er wurde nachträglich aufgezogen, nachdem man 1844 den maroden Gebäudeteil, der in die Hintere Gasse ragte, kurzerhand abgerissen hatte. In jedem der drei Stockwerke veranschaulichte Riedinger, wo im Lauf der Jahrhunderte überall ursprüngliche Balken herausgenommen worden sind. Teils könne man heute nur noch über den Grund dafür spekulieren, teils seien die damit verbundenen Umbaumaßnahmen aber auch bekannt. So ist in den 1960er Jahren ein guter Teil des Dachgebälks dem Neubau eines Sitzungssaals zum Opfer gefallen. Während hier die zur Verstärkung eingezogenen Metallstreben auffallen, zeigt die andere Hälfte des Dachgeschosses noch das ursprüngliche, intakte Gebälk. Die anstelle des Sitzungssaales geplanten Sozial- oder Büroräume werden vorerst wegen des großen baulichen Aufwandes nicht entstehen. „Es darf und wird hier keinen Luxus geben, aber alles ist auf Langlebigkeit und Harmonie mit dem Grundcharakter des Kulturdenkmals auszurichten“, sagte Kaltenbach. Es wird auch keine Rekonstruktionen nur aufgrund vager Vermutungen geben.

 

Das befürwortet auch Burghard Lohrum. Der Bauhistoriker erforschte im Auftrag der Stadt die Baugeschichte des Gebäudes und vermittelte seine Erkenntnisse genauso kurzweilig und eingängig wie die Grundlagen des Fachwerkbaus. Zur Datierung des Rathauses zog er neben den Handwerkstechniken der Zimmermänner die Methode der Dendrochronologie heran. Hier nutzt die Wissenschaft die Tatsache, dass die speziellen Klimabedingungen jedes Jahres eine typische Folge ganz individueller Jahresringe bei Bäumen hervorbringen. Diese Untersuchung ergab, dass die fürs Rathaus genutzten Hölzer im Winter 1453/1454 stammen. Den Stand einer „Ikone der schwäbisch-alemannischen Fachwerkskunst“, wie Lohrum das Rathaus mehrfach betitelte, dürften allerdings 38 Jahre Differenz keinen Abbruch tun.  Burghard Lohrum konnte viele über Jahrhunderte offen gebliebene Rätsel über die Baugeschichte des Rathauses lösen. Eines der Rätsel, welches vermutlich für immer offen bleiben wird ist die Frage: wo war die 1416 gegossene Rathausglocke vor ihrer Verwendung im Rathausturm im Einsatz?

Der Heimatverein um ihre Vorsitzende Ursula Scheunemann, Stadtarchivar Ludwig Henzler und die Stadtverwaltung hatten gemeinsam zu diesem ganz besonderen Abend eingeladen. Mit vielen neuen Erkenntnissen und interessanten Eindrücken machten sich die Besucherinnen und Besucher auf den Heimweg.